Herr Dr. Kühn erläutert das heutige Anliegen des Vortrages zur Kinderarmut. Die Bertelsmann-Stiftung hat eine Studie vorgelegt, in der der Landkreis Stendal am schlechtesten abschnitt, z. B. erhalten bei den 0 – 3-Jährigen 46 %  staatliche Unterstützung. Er stellt Frau Dr. Schnirch vor und erteilt ihr das Wort.

 

Frau Dr. Schnirch erklärt, dass sie sehr viel unterwegs sind, um die Ergebnisse der Studie vorzustellen. Es gibt sehr viele Anfragen nach Terminen, meistens von Verwaltungen, aber hier ist das Besondere, dass die Anfrage aus dem direkten politischen Raum kam. Der Vortrag ist in zwei große Teile geteilt, zum einen werde ich die Ergebnisse näher vorstellen, zum anderen werden wir analysieren, was die kommunale Ebene, die Ebene des Landkreises machen kann, und zum dritten wird das Projekt „KECK“ vorstellen.

 

Ich habe verstärkt geguckt, was die Presse im Landkreis Stendal gemacht hat und ich habe auch gesehen, dass hier sehr viele Studien zum Thema Kinderarmut in den letzten Monaten herausgekommen sind. Es gibt zwei unterschiedliche Definitionen, die diese Studie aufnimmt. Das ist einmal das Äquivalenzeinkommen, d. h., dass die Kinder als arm gelten, die in den Haushalten leben, die weniger als 60 % des Medianwert-Einkommens aller Haushalten in Deutschland haben; Sie sehen unten die Armutsrisikoschwelle für drei exemplarische Haushalte einmal beschrieben – bei einem 1-Personen-Haushalt liegt das bei 800 Euro, bei einer Alleinerziehenden mit Kind bei 1.040 Euro und bei einem Paar mit zwei Kindern bei 1.680 Euro. Die zweite Möglichkeit, Kinderarmut zu definieren und zu messen ist der SGB II-Bezug, d.h., die Hartz IV-Leistung - Kinder die in Haushalten leben, die Hartz IV empfangen. Das ist auch die Quote, die man als (bekämpfte) Armutsquote nimmt, da wird durch die staatlichen Transferleistungen schon etwas getan. Andererseits ist es auch die ungenauere Quote, weil wir nicht wissen, wie die ganz knapp über dieser Beitragsbemessung liegen bzw. wie (wenig) diese SGB II-Leistungen beantragen.

 

Für den LK Stendal sehen Sie die Entwicklung von 2008 – 2010. Herr Dr. Kühn hat die 46 % zitiert, die waren im Jahr 2008. Aktuell sind es 41 % - also ein Rückgang um 5 % bei den unter Dreijährigen. Trotzdem kann man zum Altmarkkreis Salzwedel sehen, dass das knapp 10 % höher liegt. Im Altmarkkreis Salzwedel haben wir 2010 einen Satz von 28,1 % und liegen damit deutlich unter dem Stendaler Wert. Der Sachsen-Anhalt-Wert liegt aktuell bei 33,2 %. Auch in den alten Bundesländern gibt es Gemeinden und Kommunen, die sehr hohe Werte haben, immer eng an die wirtschaftliche Entwicklung geknüpft. Allerdings ist nachgewiesen, dass es in Westdeutschland stagniert, wir sind hier von 18 % in 2008 auf 17,2 % inzwischen gekommen und in den neuen Bundesländern ist der Rückgang mit 5 % deutlich höher.

 

Wenn man jetzt auf die Zahl der unter 15-Jährigen schaut, diese Quote wird meist in den Medien angeschaut, ist diese deutlich niedriger. In Stendal haben wir 2010 „nur“ einen Wert von 32,4 %, allerdings ist das ein bundesweiter Trend. Hintergrund ist hier, dass gerade bei den unter Dreijährigen sehr viele Mütter oder Väter noch nicht arbeiten können, weil die Betreuungssituation noch nicht gegeben ist bzw. auch noch nicht arbeiten wollen.

 

Was man auch in den letzten Monaten sehen konnte, ist, dass sich viele Zahlen, es gab viele Zahlen und viele Zahlen hatte ich ihnen versprochen, ich hatte mir die Studie vom Paritätischen Wohlfahrtsverband auch noch mal angeguckt, die im März gekommen ist, und da waren die Zahlen für Stendal ein Stück weit anders. Alle anderen Studien nehmen einen Wert, z. B. September 2010 als den Wert und wir nehmen den Jahresdurchschnitt, weil wir sagen, aufgrund der hohen Unterschiede müssen wir das Mittel eines Jahres nehmen. Was wir dann gemacht haben, ist keine Stendalspezifische Auswertung, sondern eine bundesweite. Wir haben uns angeguckt, gibt es eine Verbindung von Kindern, die in Bedarfsgemeinschaften leben und den Bedarfsgemeinschaften allgemein. Hier sehen sie, dass der Wert, der im Oktober 2007 an Anteil an Bedarfsgemeinschaften bzw. an Personen unter 15 Jahren auf 100 % gesetzt wurde und die Entwicklung dann abgebildet wurde und sie können sehr schön erkennen, dass mit der Entwicklung der Bedarfsgemeinschaften linear eigentlich die Entwicklung der Kinder zusammenhängt, so dass man immer sagen kann, wenn sehr viele oder sehr wenige Eltern Hartz IV beziehen, dann ist es auch so, dass die meisten Kinder natürlich davon profitieren.

 

Dann haben wir überprüft, inwieweit gibt es besondere Gruppen, wo man hinschauen muss. Die Gruppe, die besonders stark betroffen ist, sind die Ausländer, weil die Bundesagentur nicht den Migrationshintergrund erfasst, und die Gruppe der alleinerziehenden Frauen. Die Gruppe der alleinerziehenden Frauen ist auch die Gruppe, wo nicht, wie bei den anderen drei Gruppen, die wirtschaftliche Entwicklung ab Oktober 2010 einsetzt, zu sehen ist, sonders das bleibt gleichbleibend hoch.

 

Wir haben uns als Stiftung gesagt, zu sensibilisieren ist die eine Sache, aber was kann ein Landkreis bzw. eine Kommune machen oder ist das überhaupt die richtige Ebene? Wo muss man ansetzen, um ein gelungenes Aufwachsen für Kinder zu ermöglichen? Wir haben dann den Unicef-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland gelesen von diesem Jahr und die haben gesagt, kindliches Wohlbefinden – eine Dimension ist die materielle Situation, d. h., die wirtschaftliche Entwicklung, die materielle Situation, das Einkommen der Eltern. Man kann als Kommune viele wirtschaftsfreundliche Bedingungen schaffen. Es werden aber sehr viele Sachen auf Landesebene beeinflusst, auf Bundesebene gibt es weitere Dimensionen. Da hat die Unicef-Studie gezeigt, dass es fünf weitere gibt, die auf unterer Ebene (Kommune) beeinflusst werden können, das sind Gesundheit und Sicherheit, Verhalten und Risiken, Bildung und Ausbildung, die Beziehungen zu Familien und Freunden und das subjektive Wohlbefinden. Das zentrale Ergebnis der Unicef-Studie ist, dass das Wohlbefinden von Kindern in großen urbanen Zentren schlechter ist als in ländlichen Regionen, dass die Kinderarmut in den westdeutschen Bundesländern unterschätzt wird und in den ostdeutschen Ländern überschätzt wird. Aus diesem Grund, weil wir auch diese Ungenauigkeit in unserer Studie haben, planen wir ganz einfach eine weitere Expertise, wo wir schon dran sind, wo wir einfach die Lebenshaltungskosten diesen Einkommensunterschieden gegenüberstellen und wir gehen davon aus, dass sich dann auch Ballungszentren wie München, wo Wohnraum extrem teuer ist, und für Familien, die wenig Geld zur Verfügung haben, damit auch nicht zur Verfügung stehen, dass sich dann noch mal ein anderes Bild zeigen wird. Wir planen, diese Studie Ende des Jahres oder Anfang des nächsten Jahres zu veröffentlichen.

 

Das dritte große Ergebnis war, dass die alleinerziehenden Frauen weiter sehr stark benachteiligt sind, das haben wir auch nachweisen können. Das Vierte, darauf haben wir in unserer Studie nicht geschaut, ist der starke negative Einfluss von der Erwerbslosigkeit bzw. relative Armut der Kinder auf die Schulerfolge. In dem Bericht von Unicef liegt Sachsen-Anhalt auf dem vorletzten Platz. In der Dimension Materielle Situation ist es der letzte Platz, aber z. B. bei dem subjektiven Wohlbefinden ist es im Ländervergleich Platz 10. Grundlage für diesen Unicef-Bericht waren unterschiedliche Daten, z. B. der Mikrozensus, Pisa, Indikatoren zur Raum- und Stadtentwicklung.

 

Jetzt haben wir geschaut, inwieweit ist denn der Stadtteil bzw. die Gemeinde, wo man lebt, entscheidend für die Entwicklung von Kindern. Hier gab es eine Sonderauswertung der Gesundheitsstudie des Robert-Koch-Institutes, inwieweit die Wohnumgebung entscheidend ist für die Gegebenheiten der Mutter am Beispiel des Rauchens während der Schwangerschaft. Man passt sich den Gegebenheiten im Quartier an. Gleiches konnten wir nachweisen für die Jugendlichen (11 – 17-Jährige), die mindestens einmal pro Woche körperlich aktiv sind.

 

Die andere Sache ist, inwieweit hat die institutionelle Ebene, also neben Familie sind das ja dann Schule und Kita vor allen Dingen, Einfluss auf die Entwicklung von Kindern. Da ist es uns gelungen, die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen in Abhängigkeit des Krippenbesuches zu setzen. Es muss nicht immer ein Gymnasium sein, aber es gibt einen Zusammenhang, sie sehen den Bildungsabschluss der Eltern und dann die Wahrscheinlichkeit, ein Gymnasium zu besuchen mit und ohne Krippenbesuch und gerade bei den Eltern, die einen Hauptschulabschluss haben, ist es so, dass sich mit dem Krippenbesuch von den Kindern die Wahrscheinlichkeit fast verdoppelt, das Gymnasium später zu besuchen. Ähnliches sieht man auch bei Eltern, die einen Migrationshintergrund haben bzw. auch bei der Gesamtzahl, aber am frappierendsten ist es bei den Eltern mit Hauptschulabschluss.

 

Aus diesem Grund haben wir gesagt, ja, die politische Ebene des Bundes und des Landes sind entscheidend, aber es kann auch sehr viel vor Ort gemacht werden, und haben ein Projekt nach diesem Wissen konzipiert, was ihnen jetzt meine Kollegin, Frau Kruse, vorstellt.

 

Frau Kruse: Wir haben überlegt, wie auch andere Projekte das im Bundesgebiet gemacht haben, wie kann man auf kommunaler Ebene den Handlungsspielraum so ausnutzen, dass man tatsächlich auch die Entwicklungsbedingungen für Kinder besser gestalten kann und Kindern auch unabhängig von ihrer sozialen, kulturellen oder auch wohnräumlichen Herkunft gute Entwicklungsbedingungen ermöglichen kann. Da haben wir das Projekt KECK entwickelt. Aber erstmal eine Grafik, die verdeutlichen soll, wie überhaupt Kinder aufwachsen.  Das Kind ist umgeben von der ersten wichtigen Instanz, das Elternhaus, auf der anderen Seite spielen auch die Bildungsinstitutionen Kita und Schule eine sehr wichtige Rolle. Rundherum noch viele verschiedene Akteure, die mit dem Kind arbeiten, meist erst in Problemfällen aktiv werden. Es gibt wenig Vernetzungen und Abstimmungen der Handlungsweisen. Viele sind aktiv und wollen das Beste fürs Kind, stimmen sich aber nur wenig ab. Daher haben wir das Projekt KECK entwickelt. KECK steht für Kommunale Entwicklung – Chancen für Kinder. Hier haben wir uns fünf Prinzipien bestimmt, und das ist zum einen die sachliche Darstellung von Daten. Wir wissen, nicht nur die einzelnen Aspekte machen das Wohlbefinden der Kinder aus, sondern da sind ganz vielseitige Betrachtungsweisen, die wir da anschauen müssen. Wir haben das Ziel, mit Hilfe einer transparenten Darstellung eine sachliche Diskussion zu führen. Es ist eine Steuerung notwendig und eine ganz wichtige Rolle spielt in diesem Projekt auch die Kita. Auch die Vernetzung, die Aktivierung des Sozialraumes ist ganz relevant, auch aufgrund der Tatsache, das sozialräumliche Lösungsansätze ganzheitliche Strategien für das Aufwachsen der Kinder ein hohes …Potenzial haben. Das weiß man aus der sozialen Arbeit, aus verschiedensten Projekten, die auf Bundesebene laufen, d. h., die Kommunen haben hier eine Möglichkeit, kleinräumig zu steuern. Ziel ist, Ressourcen dahin zu geben, wo Kinder sie am nötigsten haben. D. h., Mittel, sei es Finanzen, Personal oder auch Zeitressourcen nicht mit der Gießkanne in einer Kommune verteilt werden, sondern tatsächlich nach den Bedingungen, wie Kinder aufwachsen. Schließlich ist es auch wichtig, die getroffenen Maßnahmen in einer Kommune zu überprüfen und zu gucken, wie wird das, was wir machen. Welche Maßnahem haben welche Wirkungen zur Folge.

 

Diese Prinzipien haben uns bei der Entwicklung von zwei Instrumenten begleitet, das ist zum einen der KECK-Atlas auf Sozialraumebene, d. h., die eben vorgestellten übergestellt Darstellung von Daten auf Bundes- und Kreisebene führen wir fort in einer kleinräumigen Betrachtung. Wir haben hier den Stabilitätsindex gewählt, damit sind gemeint der Anteil von Kindern in Bedarfsgemeinschaften, der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund und der Anteil von Kindern Alleinerziehender. Das sind drei wichtige Aspekte, die die Teilhabechancen von Kindern, sei es Bildungs- oder Gesundheitschancen, beeinflussen. So sieht man, wenn man die drei Indikatoren zusammenzieht, wie schwierig die Bedingungen des Aufwachsens sind.

 

Auf der anderen Seite gibt es das Instrument KOMPIK, das ist ein Beobachtungsinstrument für die Kita, es steht für Kompetenzen und Interessen von Kindern. Es ist Teil der in allen Bildungsplänen aller 16 Bundesländer genannten Bildungsbeobachtungen, d. h., es ist ein mögliches Instrument, was zu Bildungsbeobachtungen genutzt werden kann und damit auch ein Hilfsmittel für Erzieherinnen ist, die Kinder individuell zu begleiten und in Abstimmung mit den Eltern die Kinder auch zu fördern.

 

Das Besondere ist, dass wir mit dem Beobachtungsinstrument den KECK-Atlas mit weiteren Informationen unterfüttern. Neben sozialer Lagebildung und Gesundheit können wir auch eine Aussage treffen über die tatsächliche Entwicklung der Kinder vor Ort. Das wäre z. B. auch durch Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen möglich, die ja auch Individualdaten darstellen, aber auch da haben wir im Bundesgebiet je nach Ländern erhebliche Unterschiede, was die Qualität der Daten anbetrifft. Mit KOMPIK haben wir eine weitere Möglichkeit geschaffen, wie man individuumbezogene Daten zusammengefasst darstellen kann.

 

In einem Beispiel war in einem Stadtteil die sprachliche Kompetenz sehr hoch, obwohl der Anteil der Familien mit Migrationshintergrund über 90 % war. Das hatten die kommunalen Entscheider, die kommunale Verwaltung und weder die Kitas vor Ort so erwartet. Bei der Analyse mit den Akteuren vor Ort hat sich aber ergeben, dass es ein sehr gut arbeitendes Familienzentrum vor Ort gegeben hat, das auch Eltern stärker mit einbezieht und vor allem in den letzten fünf Jahren einen besonderen Fokus auf die Beteiligung und Sprachförderung der Eltern gelegt hat, so dass sich das in den Kompetenzen der Kinder widerspiegelt.

 

Wichtig ist, die Ressourcenart zu steuern, d. h., nicht unbedingt muss der Sozialraum mit den schwierigsten Ausgangsbedingungen die höchsten Mittel bekommen, es kann der Fall sein. Aber es ist wichtig, dass die Ideen aus den Sozialräumen kommen, denn nur die Akteure vor Ort wissen genau, was die Kinder brauchen und können das auch analysieren – das kann Politik alleine nicht leisten.  Unser Ziel ist letztendlich, dass es einmal auf der kommunalen Seite und einmal auch für jeden Stadtteil eine abgestimmte Handlung zum Wohle der Kinder gibt, dass die Institutionen, die daran beteiligt sind, einzelne Akteure und engagierte Bürger auch die Möglichkeit haben, ihr Handeln aufeinander abzustimmen und damit den Kindern bessere Entwicklungs- und Teilhabechancen bieten.

 

Frau Kruse: Es ist auch nicht möglich, bei allen Einflussfaktoren, die der kindlichen Entwicklung zugrunde liegen, Kausalzusammenhänge zu unterstellen. Wir können nicht sagen, allein die Handlungen in der Kita ließen den Schluss zu, dass die Kompetenzen sich weiterentwickeln. Das kann eine Möglichkeit sein, aber es zählen auch Faktoren wie Sozialraum und Elternarbeit auch dazu.

 

Frau Dr. Schnirch: Man darf auch die beiden Ebenen nicht verwechseln. Wir haben auf der Bundesebene bzw. auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte eine gesicherte Datenlage. Auf der Ebene der Kommunen ist es so, dass die Städte die Daten selbst einstellen und auch die Beobachtungen mit KOMPIK durch die Erzieherinnen nicht kontrolliert werden können.

 

Herr ? fragt zum besseren Verständnis: Sie haben bei den Erzieherinnen in Heilbronn keine standardisierten diagnostischen Verfahren eingesetzt.

 

Frau Kruse: Bei KOMPIK handelt es sich nicht um ein Diagnostikverfahren. Es ist vorgeschrieben, dass Beobachtungen durchgeführt werden. Es werden zwei Erzieherinnen, die das Kind gut kennen, auch zu ähnlichen Beobachtungen kommen.

 

Herr Dr. Kühn findet im Atlas auffällig, dass gerade hier die Kitas im Landkreis Stendal nicht aufgeführt sind, auch nicht die Anzahl der Betreuer. Schade, denn wir gehen eigentlich davon aus, dass wir ein sehr hohes Betreuungsverhältnis haben und wir sind ein weißer Fleck im Atlas.

 

Frau Kruse erklärt, dass das an der Datenverfügbarkeit liegt. Wir kaufen die Daten ein, bekommen aber leider nicht alle zur Verfügung gestellt.

 

Herr Dr. Kühn fragt nach, ob sie Daten vom Landkreis Stendal erhalten haben.

 

Frau Dr. Schnirch antwortet, dass auf höherer Ebene eingekauft wird, z. B. beim Bundesland, aber wir haben keinen Einfluss auf die Daten.

 

Frau Kruse erklärt, dass es sich ähnlich bei den Schuleingangsuntersuchungen oder U-Untersuchungen verhält, auch hier werden ganz unterschiedliche Daten bei den einzelnen Bundesländern zur Verfügung gestellt. Das liegt zum einen an der Qualität bei den Schuleingangsuntersuchungen, aber auch einfach an den Beschlüssen der Gesundheitsministerkonferenz auf höheren Ebenen. Wir können nur das zur Verfügung stellen, was auch uns zur Verfügung gestellt wurde.

 

Herrn Rettig ist im ersten Vortrag etwas aufgefallen. In den alten Bundesländern wird die Kinderarmut unterschätzt, in den neuen Bundesländern überschätzt. Was bedeutet das?

 

Frau Dr. Schnirch: Das ist durch die Zahlen relativ leicht möglich. Wir haben in Bayern z. B. eine Quote von Kindern unter 3 Jahren im SGB II-Bezug von 2,4 %. Dann war die Interpretation des Landkreises und auch der Presse vor Ort, das ist kein Problem. Das haben wir relativ häufig. In den neuen Bundesländern sehen wir durch die hohe Anzahl, jedes dritte Kind ist in den meisten Kommunen in Ostdeutschland betroffen, wird das immer und immer wieder von unterschiedlichen Medien und Vereinen partizipiert. Wir sind aber der Überzeugung und auch im Unicef-Kinderbericht wird das so genannt, dass wir, wenn wir nur die Anteilsquoten im SGB-II-Bezug von Kindern darstellen, eigentlich zu kurz greifen, weil wir die Lebenshaltungskosten nicht berücksichtigen. Und dann wird sich das Bild in Baden-Württemberg und Bayern mit sehr teurem Wohnraum und Dienstleistungen ein Stück weit verändern und dann wird Armut sich auch verschieben, weil man sich für 100 Euro in Stendal mehr leisten kann als in München. Das wollen wir nachweisen.

 

Frau Kruse: Zur Ergänzung: Wenn in Heilbronn die Armutsquoten nicht bei annähernd 40 % lagen, ist es doch so, dass wir dort auch Stadtteile finden, die einen annähernd hohen Anteil der Kinder in Bedarfsgemeinschaften haben und andersrum aber auch Stadtteile, die eben eine geringe Quote von 2 – 5 % haben und das lässt eigentlich darauf schließen, dass es eigentlich in vielen deutschen Kommunen so ist, dass der Anteil innerhalb der Kommunen tatsächlich erheblich schwankt.

 

Herr Bergmann will etwas tiefer in die Thematik hier vor Ort einsteigen. Letztens wurde im Jugendhilfeausschuss darüber diskutiert, dass der prozentuale Anteil bei unter Dreijährigen sehr hoch war. Ich hatte damals gesagt, wir sind hier nicht im Landkreis Starnberger See. Das kommt aber automatisch auch dadurch, dass jeder sehr viel mit Prozentzahlen arbeitet. Sie haben immer eine Relation einer Zahl im Vergleich zu einer anderen. Könnten wir im Landkreis Stendal die gleiche Anzahl armer Kinder haben wie im Landkreis Starnberger See, da habe ich vielmehr Regionalbonus, da sieht’s viel geringer aus und hier sieht’s viel höher aus. Fakt ist, die Einkommensverhältnisse sind hier doch viel geringer als in vielen anderen Bereichen Deutschland. Deswegen: Welche Schlüsse ziehen Sie aus den Prozentzahlen? Haben Sie differenziert zwischen städtischen Bereichen und ländlichen Bereichen und wie stellt sich das dann dar?

 

Frau Dr. Schnirch versucht zu antworten und widerspricht gleich. Gerade die Prozentzahlen sind die wahren Zahlen. Wir haben die Anzahl der Kinder in Bedarfsgemeinschaften mit der Anzahl der Kinder in der Altersgruppe gesetzt, und damit haben wir eigentlich den Starnberger See mit Stendal vergleichbar gemacht. Zu der Nachfrage nach den ländlichen und städtischen Gebieten: Da ist es leider so, dass es eigentlich in der Regel so ist, dass die Ballungszentren sehr viel stärker betroffen sind. Wir haben eine große Ballung im Ruhrpott als im ländlichen Gebiet. Wir sehen ganz klar eine Dreiteilung, wenn man auf einer regionalen Ebene schaut, Großstädte umgebende, wie z. B. der Speckgürtel Potsdam Mittelmark/Potsdam sieht sehr gut aus und dann darum das ländliche Gebiet. Da ist es so, dass Stendal nicht jetzt 0,7 % über Uecker/Randow liegt, es gibt auch hier in Uecker-Randow/Ueckermünde Gebiete, die ähnliche hohe Zahlen haben. Nur Stendal hatte die höchste Zahl im Bundesstand.

 

Herr Dr. Kühn fragt: Die Jugendhilfeausgaben steigen, obwohl die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Haben sich da neue soziale Betätigungen institutionalisiert?

 

Frau Kruse würde die erste Aussage relativieren, weil wir wissen, dass die bekämpfte Armut zurückgeht lt. Zahlen, die von offiziellen Stellen kommen. Das zweite ist, wir gehen eher davon aus, dass es einen Grund hat, den wir nicht näher benennen können, dass die Jugendhilfeausgaben steigen. Wir stellen zumindest die These auf, dass es nicht immer durch ein Mehr an Ressourcen getan ist, sondern dass die Ressourcen auch anders verteilt werden sollen, eben durch eine veränderte Ressourcensteuerung.

 

Herrn Dr. Kühn ist noch aufgefallen, sie haben eine Grafik aufgestellt, wie Kinder und Jugendliche ärztlich versorgt werden. Da schneidet Stendal mit 20 % schlechter Kinderarztversorgung unter dem Landesdurchschnitt ab. Wie können Sie das politisch erklären?

 

Frau Kruse kann das nur bedingt politisch erklären, das muss die kassenärztliche Vereinigung wissen, wie Kinderärzte verteilt werden. Aber in meiner Position als Gesundheitswissenschaftlerin würde ich Ihnen auch sagen, dass nicht unbedingt immer Kinderärzte die wichtigste Instanz im Aufwachsen der Kinder sind, sondern dass es ein Zusammenwirken von vielen Akteuren ist. Wir können uns das nicht erklären, es gibt ganz andere bundespolitische Prozesse, die da ablaufen, z. B. die Kassenärztliche Vereinigung, die für die Niederlassung zuständig ist.

 

Frau Dr. Schnirch ergänzt, dass das jetzt kein Stendaler Problem ist. In Dessau waren vor 10 Jahren 8 Kinderärzte, jetzt ist ein 68-jähriger Kinderarzt der Einzigste.

 

Herr Hutsch erklärt, dass, was sie hier aufgezeigt haben, macht deutlich: a) dass die Zahlen, die sie hier präsentieren, sachbezogen ausgewertet werden müssen. Das ist eine Grundvoraussetzung, zu gucken, was sagen uns diese Zahlen? Sie interpretieren einen Sozialraum und die damit Verantwortlichen in den unterschiedlichen Bereichen. Der zweite Schritt ist dann: Wie sind Handlungsstrategien entsprechend zu entwickeln? Wir brauchen a) solide Ausgangsbasis, um solide Zahlen zu haben. Und b) über Zielvereinbarungen zu gucken, wo kriegt man ein Dialogorientiertes Verfahren hin, dass Steuerung von Ausgaben auch zielgerichtet eingesetzt werden. Ich finde es gut, dass sie sagen, die Beteiligten, die sich in so einem Schaubild darstellen, die müssen wir erreichen, um auch gezielt Handlungsstrategien entwickeln zu können. Nur wenn wir die Beteiligten vor Ort einbinden, wissen wir auch, was wirkt, und dann kann man erst eine Aussage treffen, wie Wirkungsorientierung an der Stelle stattgefunden hat.

 

Zweitens ist sehr wesentlich das Dialogprinzip. Mit den Leuten und über Leute reden ist ganz wichtig. Die kausalen Zusammenhänge sind häufig mit sehr hohen Hemmnissen verbunden und von daher wäre es spannend zu sehen, wie sich in einem dialogorientierten Verfahren Daten aufbereiten lassen, aber auch Zielvereinbarungen durch die Ausschüsse dann ganz konkret sagen, in den nächsten drei Jahren versuchen wir dort Handlungsschritte zu setzen.

 

Frau Dr. Schnirch: Schöner kann man unsere Projektziele bis Ende 2014, wo wir noch zwei weitere Modellstandorte suchen, gar nicht zusammenfassen. Heilbronn ist eine Kommune, die mit uns weiterarbeiten wird. Wir suchen noch zwei, gerne soll es eine Kommune in den neuen Bundesländern sein, weil wir auch nach 20 Jahren Deutscher Einheit festgestellt haben, dass es da noch große Unterschiede gibt. Wir haben einen kommunalen Workshop als ersten Schritt konzipiert, Zielgruppe ist der Jugendhilfeausschuss – erweitert um Akteure, die mit Kindern und Jugendlichen bzw. für Kinder und Jugendliche arbeiten -  wo der Landkreis auch begleitet wird bei den ersten Schritten in den KECK-Atlas. Wir möchten das auch gerne in Stendal anbieten. Die Workshops sind jetzt fertig, später müssen sie von den Kommunen eingekauft werden, sie werden zwischen 3.000 und 7.000 Euro kosten, aber da wir jetzt in der Testphase sind, können wir anbieten, einen Workshop in Stendal kostenfrei zu machen.

 

Frau Kruse: Wir haben mit anderen Projekten in der Stiftung gute Erfahrungen gemacht, dass Ausschüsse oder Kommunen, die tatsächlich politischen Willen haben, in den ersten Schritten durch einen Moderator noch mal unterstützt werden.

 

Herr Bergmann: Frau Kruse, Sie haben recht, wenn Sie feststellen, dass der Anteil armer Kinder in Stendal recht hoch ist. Sie haben dann mehrfach betont, wenn man Kindern etwas Gutes tun will, muss man sich innerhalb der Kommune darüber unterhalten und verständigen und das Umfeld betrachten. Sinnvoll wäre, über die Steuerung der Ressourcen nachzudenken. Jetzt die Frage: Ist hier in Stendal etwas falsch gelaufen?

 

Frau Kruse: Ich gehe nicht davon aus, dass hier etwas falsch läuft, denn es zeigt sich, dass es in vielen deutschen Kommunen so aussieht und es ist nun mal ein neues Handlungsprinzip der letzten 20 Jahre, dass Kommunen für sich auch Schritt für Schritt weiterentwickeln müssen. Man muss sich den aktuellen Gegebenheiten anpassen. Wenn wir sehen, dass die Kommunen vor extremer finanzieller Knappheit stehen, dann muss man sich überlegen, wie können Ressourcen anders gesteuert werden. Die meisten Kommunen sind diesbezüglich aber erst in den Kinderschuhen.

 

Frau Dr. Schnirch ergänzt, es ist schwierig, in dem Moment, wo man die Mittel da einsetzt, wo der größte Bedarf ist, fehlt er an anderer Stelle, und da braucht man den politischen Willen.

 

Herr Hutsch: Wenn sie die Entwicklung ansehen, wie sie sich insgesamt über Jahre hinweg in der Altmark dargestellt hat, die Quoten überraschen ja nicht, es ist ja nicht so, als wäre das über Nacht so gekommen, sondern es ist ja etwas, was sich seit Jahren bestätigt hat. Wir haben in Sachsen-Anhalt eine der höchsten Versorgungsquoten an Kindertagesstätten, wir sind im Bereich der 0 – 3-Jährigen bei 60 % Versorgung. Es wird hier schon eine ganze Menge getan. Trotzdem kann die Sozialadministration gewisse Dinge, die sich im Bereich der Armutsentwicklung abspielt, nicht beeinflussen, das ist ein anderer Zusammenhang. Als Beispiel wird angeführt, was die Stadt Stendal schon vor der Einführung des Bildungspaketes gemacht hat, nämlich, dass alle Hartz 4-Kinder kriegen ein kostenfreies Mittagessen in der Kindertagesstätte. Man hat die Handlungsstrategien schon erkannt.

Zweitens: Es gibt in Sachsen-Anhalt zwei große Projekte, die jetzt ausgelaufen sind, wo man sehr genau geguckt hat, wie müssen sich Kitas qualifizieren, um auch im Umfeld von Familien wirksam zu sein und die Menschen zu erreichen – diese Projekte laufen aus, es gibt keine Neuauflage. Das sind genau die Punkte, die auf Landesseite sehr wichtig sind und auch die Kommunen zu unterstützen und zu stärken.

 

Herr Dr. Kühn: Das wichtigste ist also, Arbeitsplätze zu schaffen, und das ist eine politische Aufgabe.

 

Frau Kruse: Das war der Versuch, in diesen Dimensionen zu denken, dass man die wirtschaftliche Entwicklung ein Stück weit abkoppelt und schaut, was kann man sonst noch tun. Klar ist die wirtschaftliche Entwicklung der Faktor Nr. 1, wenn sehr viele in Arbeit sind, beziehen sie kein SGB II. Das ist die beste Möglichkeit, um der Armut zu begegnen.

 

Wir betrachten ja in Deutschland die relative Armut und nicht die absolute, d. h., in Deutschland hat eigentlich jedes Kind etwas zu essen am Tag, das ist in anderen Ländern nicht so, und deswegen kann man das an der bloßen Zahl des zur Verfügung gestellten Geldes in dem Fall im Vergleich zu anderen Ländern nicht betrachten. Es ist so, dass die relative Armut auch diese Indikatoren, wie Frau Schnirch sie vorgestellt hat, neben der materiellen Situation auch die Auswirkungen betrachtet, die diese relative Armut mit sich zieht im Hinblick auf das Wohlbefinden der Kinder.

 

Gast würde interessieren, Sie haben ja die materielle Armut an die obere Stelle gestellt und danach kamen dann noch weitere Punkte; gibt es Erhebungen darüber, ob sich bei materiellem Wohlstand oder bei materieller Verbesserung dann in den anderen Bereichen, insbesondere beim Kind, bei der Entwicklung, bei der Bildung tatsächlich etwas ändern würde, d. h., wenn die Eltern mehr Geld haben, haben dann nicht die Kinder mehr zu essen, sondern gehen dann auch tatsächlich mehr Kinder auf höhere Bildungsanstalten, werden die dann besser sozialisiert? Ist das wirklich nur vom Geld abhängig?

 

Frau Kruse kann nicht den aktuellen Vorschulstand darstellen, weiß aber, dass es Forschungen darüber gibt, was ein ähnliches Einkommen überhaupt auf gesellschaftlicher Ebene bedeutet und da gibt es die Meinung, dass nicht das absolute Niveau des Einkommens für Zusammenhalt in der Gesellschaft spricht, sondern das eher moderate Niveau.

 

Frau Dr. Schnirch legt noch mal eine Folie auf, die diesen Unicef-Bericht genau in dieser Frage, die Verteilung in Deutschland, zeigt. Sie sehen Sachsen-Anhalt auf dem vorletzten Platz, und gerade beim materiellen Wohlbefinden auf dem letzten (16.) Platz. Sie sehen aber z. B. beim subjektiven Wohlbefinden liegt Sachsen-Anhalt auf Platz 10. Ich denke, dass Kinder auch in weniger situativen Situationen sehr glücklich aufwachsen können.

 

Frau Kruse: Auch emotional stabile Verhältnisse haben erhebliche Auswirkungen darauf, wie Kinder aufwachsen.

 

Herr Hutsch: Man kann auf Basis der aktuellen und neuen Literatur sehr schön und sehr deutlich und klar sagen, dass das Themengebiet zu sozialer Ungleichheit und Gesundheit sehr schön untersucht wurde und das nicht nur subjektives Wohlbefinden vom materiellen Einkommen der Eltern abhängig ist, sondern bis hin zu Gesundheit und Sterblichkeit. Es gilt heute noch: Weil du arm bist, musst du früher sterben. Da brauchen wir uns auch für Deutschland nichts vormachen.

 

Herr Dr. Kühn: Der Bertelsmann-Verlag stürzt sich in Bildung. Wenn jetzt die Stiftung solche Untersuchungen macht, könnte man dann vermuten, dass das eine Forschung ist, die dem eigenen Betrieb nützt?

 

Frau Dr. Schnirch: Wir werden sehr oft mit diesen Fragen konfrontiert, vor allen Dingen auch, wie passen diese Studien zu Formaten wie „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“. Wir sagen deutlich: Wir sind die Bertelsmann-Stiftung, das Andere ist die Bertelsmann-AG und wir arbeiten in einem ganz anderen Bereich und bereiten auch keine Geschäftsfelder für die AG vor bzw. das ist völlig unabhängig voneinander.

 

Herr Wulfänger: Es wurde angeboten, dass man gleich beim Landkreis Stendal weiterarbeitet. Die Frage ist: Wollen wir mit der Bertelsmann-Stiftung weiterarbeiten, wollen wir das Angebot annehmen oder nicht? Vielleicht sollte der Ausschuss die Verwaltung beauftragen, dass wir mit der Bertelsmann-Stiftung darüber verhandeln sollten, in welcher Form wir hier weitermachen sollen.

 

Herr Dr. Kühn bedankt sich bei beiden Referentinnen.